Dorothee Fliess wurde 1922 als zweite Tochter eines im ersten Weltkrieg hoch dekorierten Offiziers und sehr angesehenen jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin geboren. Im November 1938 musste sie von einem Tag auf den anderen die Unterprima der Fürstin Bismarck-Schule verlassen, besuchte in Folge Kurse in Stenographie und Schreibmaschine, arbeitet schließlich in der Kanzlei ihres Vaters als Sekretärin mit, bis sie 1941, mit 19 Jahren, bei der Firma Ehrich & Graetz in Berlin-Treptow zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde.
Während ihre ältere Schwester, Beate, 1939 nach Palästina auswanderte, hat Dorothee diesen Schritt nie ernsthaft geplant, weil sie mit Leib und Seele Berlinerin war. Dass Dorothee Fliess immerhin bis Ende 1941 das relativ normale Leben einer gutbürgerlichen Rechtsanwaltstochter führen konnte, war nur möglich, weil ihr Vater als Rechtsanwalt und Notar eine Sonderstellung in Berlin inne hatte. In den ersten Wochen des Jahres 1942 erhielt dann aber auch die Familie Fliess die schriftliche Mitteilung, dass sie zur „Evakuierung“ aus Berlin vorgesehen sei und sich mit je einem Stück Handgepäck bereit zu halten habe.
Aufgrund seiner Stellung und ausgezeichneter Verbindungen setzten sich Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi und Rechtsanwalt Helmut James Graf von Moltke mit tatkräftiger Unterstützung des Amtes Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht dafür ein, die Familie Fliess von dieser Evakuierung auszunehmen. Wie man der Familie später berichtete, war Himmler anlässlich eines offiziellen Essens der Vorschlag unterbreitet worden, eine Gruppe von Personen – als Juden getarnt – ins Ausland zu schleusen, wo sie für Deutschland als angebliche Agenten bzw. Vertrauensleute der Abwehr tätig werden sollten. Und: Himmler gab seine grundsätzliche Zustimmung!
Nur so konnte es noch im September 1942 gelingen, dass die Familie Fliess, das Ehepaar Arnold mit zwei Kindern, das Ehepaar Rennefeld, Frau Annemarie Conze mit zwei schulpflichtigen Kindern, die mit Brigitte Canaris befreundet waren, der Tochter des Admirals und Abwehrchefs Canaris und Fräulein Lotte Friedenthal unter höchster Geheimhaltungsstufe legal aus Deutschland in die Schweiz ausreisen konnte.
Die Geschichte dieser Rettungsaktion wird sehr anschaulich und detailliert in dem Buch von Winfried Meyer „Unternehmen Sieben“ Eine Rettungsaktion. Mit einem Begleitwort von Klaus von Dohnanyi (Anton Hain Verlag, Frankfurt am Main, 1993; ISBN 3-445-08571-4) dokumentiert.
Dorothee Fliess konnte in Basel ihr Abitur nachholen und an der dortigen Universität studieren. Sie wurde dort Lehrerin. Seit 1947 kam Dorothee Fliess jährlich nach Berlin. Regelmäßig besuchte sie auch die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und lernte dabei auch die „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V.“ kennen. Die Aufgabe, die sich die Forschungsgemeinschaft gestellt hat, sich der Erforschung des Widerstandes während der Zeit des Nationalsozialismus zu widmen, fand ihr reges Interesse und höchste Zustimmung.
So schrieb sie in ihren Erinnerungen 1984: „ Es sind mehr als 40 Jahre vergangen und diejenigen, die nach dem Krieg geboren wurden, wissen so gut wie nichts von damals und könnten es – selbst bei bestem Willen – nicht wirklich nachempfinden. Selbst mir fällt es schwer, mich in jene Zeit zurückzuversetzen. Nur die Erinnerung an die vielen Toten bleibt und die Gewissheit, dass es Menschen wie den Freiherrn von Dohnanyi, den Grafen Moltke, den Admiral Canaris und ihre Freunde tatsächlich einmal gegeben hat. Es waren einmalige Erscheinungen wie es sie niemals wieder geben wird. Sie beeinflussen über ihren Tod hinaus – und sicherlich bis zu unserem Tod – die Anschauungen, die Handlungen und ganz allgemein die Existenz von uns wenigen Überlebenden“. (Aus: „Der 20. Juli 1944“ Annäherung an den geschichtlichen Augenblick – Herausgegeben von Rüdiger von Voss und Günther Neske, 1984, Verlag Günther Neske, Pfullingen; ISBN: 3 788 5 02703, S. 69, Dorothee Fliess „Geschichte einer Rettung“)